Chormusik in der liturgie
Categorie: Diversen
Publicatie in: Musik & Kirche 2002 - 1
Datum: januari 2002
Vorgeschichte
Die Niederlande - wie der Name bereits sagt: eigentlich nichts anders als einige Niederungen im Delta von zwei der wichtigsten Flüsse Europas, der Rhein und die Maas. Aber gerade deshalb von jeher ein Gebiet mit einer grossen Verschiedenheit an kulturellen Einflüssen. In einer Zeit wo 'über Wasser' die einfachste und schnellste Weise von Transport war (Landwege waren oft unbegangbar, Pferde ein Luxus) entwickelte die Niederlande sich zum Zentrum des nordeuropäischen Handels. Vor allem die südlichen Niederlande bildeten am Ende des Mittelalters ein blühendes Handelsgebiet, wo die ausgedehnten internationalen Kontakten ein fruchtbares kulturelles Klima schafften, sowohl in der Malerei (die Gebrüder Van Eyck, Rogier van der Weyden, Hieronymus Bosch) als auch in der Musik (Josquin des Prez, Jacob Obrecht, Clemens non Papa).
Die Verhältnisse änderten sich jedoch im zweiten Teil des sechszehnten Jahrhunderts. Die Reformation fand viele Bekenner in den Städten der südlichen Niederlande, und wurde der Anlass zum '80-jährigen Krieg' (1568-1648) als die 'Vereinigten Niederlande' sich ihre Unabhängigkeit des Königs von Spanien erkämpften. Das Handels- und Kulturzentrum Antwerpen wurde 1588 von den spanischen Truppen erobert; der Hafen wurde geschlossen, und viele Einwohner, darunter zahlreiche Händler und Künstler, flohen nach dem Norden. Dies führte dazu, dass der europäische Handel sich in Amsterdam zu konzentrieren begann, und dass das wirtschaftliche und kulturelle Leben in den nördlichen Niederlanden aufblühte. Nicht umsonst wird diese Periode wohl 'das goldene Jahrhundert' genannt, worin vor allem in der Malerkunst grosse Höhepunkte erreicht wurden (Rembrandt, Vermeer, Jan Steen).
Diese Blüte ging der Kirchenmusik leider vorbei. Die kalvinistische Strömung in der Reformation (und dann auch noch die meist konservative Seite) kam siegreich aus dem Krieg mit Spanien.Wo Jan Pieterzn. Sweelinck in Amsterdam am Anfang des 17. Jahrhunderts noch einer der wichtigsten europäischen Kirchenmusiker seiner Zeit war, ordnete die 'Synode van Dordrecht' (1618-19) an, dass während des Gottesdienstes nur noch gereimte Psalmen (einstimmig) gesungen worden dürften. Nur einzelne Gesänge wurden erlaubt (siehe auch das Artikel 'Hymnologie', Seite .....). Mehrstimmige Kirchenmusik war volkommen undenkbar. Die grosse europäische Musikkultur des Barocks in dieser Periode ging den Niederlanden völlig vorbei.
Es hat lange gedauert ehe die Niederlande sich aus dieser geistlichen Isolierung zu lösen wussten. Erst im 20. Jahrhundert zeigt man sich wieder aufgeschlossen für ausländische (kirchen)musikalische Einflüsse. Emanzipation in vielerlei Bereiche schöpft endlich wieder Möglichkeite zu einer weiteren Eintwicklung.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Erneuerung der Kirchenmusik, wie diese sich in Deutschland ab den 20. und 30. Jahren entwickelt hat, auch in den Niederlanden festen Boden unter den Füssen gewinnt, stellt sich heraus, dass hier viele Geiste reif sind für eine solche Erneuerung. Es führt in diesem Rahmen zu weit, tief auf diese Entwicklungen einzugehen, dennoch ist es interessant zu sehen wie verschieden der Werdegang in den beiden Ländern gewesen ist. Die Niederlande kennten keine Jugend- und Singbewegung, keine Orgelbewegung, keine Lutherrenaissance. Und obwohl der Begriff 'Liturgie' stets lebendiger wurde, war das keine Erneuerung, weil die Kirche sich vorher überhaupt nie seriös mit Liturgie beschäftigt hatte. Kann man in Deutschland sprechen von einer "Wiedergeburt der Kirchenmusik", in den Niederlanden ist es vielmehr 'die Geburt der Kirchenmusik'.
Eine lebendige Kantoreipraxis fangt erst recht an bei der Einführung des 'Liedboek voor de Kerken' in 1973. Dieses Liedbuch brachte viele neue Lieder, die von Sanggruppen begeisterter Gemeindemitglieder vorgesungen wurden. Nach einiger Zeit entwickelten viele dieser Sanggruppen sich zu echten Kantoreien, und wurde auch das Interesse für mehrstimmige Kirchenmusik geweckt. Erst danach kamen die homofonen Psalmsätze von Claude Goudimel und die Kantionalsätze von Michael Praetorius in Sicht, wurde eine Herausforderung gefunden in den polyfonen Motetten von Melchior Franck und Heinrich Schütz, und wurde allmählich auch die moderne Kirchenmusik von Hugo Distler, Ernst Pepping und Hans Friedrich Micheelsen in das Repertoire aufgenommen. Wieder etwas später begannen die niederländischen Kirchenmusiker selbst zu komponieren. Vorbild ist ein guter Meister!
Nicht nur die Entwicklung der deutschen Kirchenmusik hat die niederländischen Kirchenmusiker inspiriert. Auch die anglikanische Tradition hat viel Einfluss gehabt. Musik von Charles V. Stanford, Edward C. Bairstow und Herbert Howells wird gerne gesungen. Aber auch Musik aus zahlreichen anderen Ländern und Kulturen findet viele Freunde. Das zeigt sich am deutlichsten in dem Band "Hoop van alle volken"(Hoffnung aller Völker), eine Sammlung von Kirchenliedern aus mehr als 50 Länder. Sehr ökumenisch und variiert bietet diese Sammlung eine schöne Übersicht der Breite der Kirchenmusik.
(Hoop van alle volken 73)
Kantoreipraxis
So wie die Politik in den Niederlanden mehr als irgendwo anders stark zersplittert is, und auch in vielen anderen Bereichen die Pluriformität Triumphe feiert, ist auch die Kirchenmusik in Holland sehr verschieden, auch schon durch die grosse Diversifikation verschiedener Konfessionen. Vor allem für die Liturgie am Sonntagmorgen ist es ist denn auch unmöglich eine vollständige Übersicht zu geben was gesungen wird. Mehr Einheit findet man in der Musik die während der Stundengebeten erklingt. Die Texte von dem römisch- katholischen Huub Oosterhuis und die Musik von Bernard Huybers und Antoine Oomen werden vielleicht am weitesten verbreitet gesungen. Im 'Evangelisches Gesangbuch' sind davon einige Übersetzungen aufgenommen. Folgen wir zuerst die Liturgie des Hauptesgottesdienst, also des Dienstes mit Abendmahlsfeier.
Der Introituspsalm kann immer in Wechsel mit der Gemeinde ausgeführt werden. Viele Kantoreien singen auf diese Weise gerne die Kantionalsätze von zum Beispiel Claude Goudimel oder Claude le Jeune. Leider stimmen die Tonarten dieser Sätze nicht immer überein mit der Tonart im Gesangbuch, und muss ein gutes Kompromis für Chor und Gemeinde gesucht werden. Zugleich gibt es seit 2000 eine Ausgabe von 'Antiphonen' die mit den bereimten Psalmen gesungen werden können; für jeden Sonntag eine Antiphon die der Tonart und dem Stil des bereimten Psalmes entspricht. Ein Chor kann den Psalm jedoch auch 'ungereimt' singen, es gibt dafür sehr viele Möglichtkeiten.
(Antifonen Psalm 98 - Seite 36)
Viele Chöre lieben die 'Anglican Chants'. Diese werden in der englischen Sprache gesungen, oder in der holländischen Übersetzung. Pieter Oussoren hat alle Chants übersetzt und mit musikalischer Mitarbeit von Gert Oost herausgebracht im Band 'De stem van David, psalmen'.
Das neue 'Dienstboek, een proeve (1998)' bietet 9 Ordinariumteile der Liturgie. Die 'Vogel-Messe' von Willem Vogel war inzwischen so bekannt geworden dass diese nicht mehr im Dienstboek aufgenommen worden ist. Auch Teile der Messen aus der Musikliteratur können gesungen werden.
Viele Möglichkeiten gibt es für die Kantorei vor allem bei den Lesungen. Die Evangelienmotetten von Andreas Raselius, Melchior Vulpius, Melchior Franck und vielen anderen werden häufig gesungen, oder dienen als Beispiel um selbst zu komponieren. Willem Vogel komponierte in 1980 einen Jahrgang 'Evangeliemotetten', der später auch in Deutschland bei dem Strube Verlag herausgegeben worden ist. In April 2001 erschien eine Sammlung mit einfachen 3-stimmigen Evangeliemotetten (Luthers Motettenboek/Ausg. Lutherse Werkgroep voor Kerkmuziek), speziell für kleine Kantoreien geeignet.
Leider ist es immer ein Problem um Motetten aus einer Fremdsprache zu übersetzen. Die Sprache selbst ist schon Musik, die Klangfarbe ist mitkomponiert worden und das Wort-Ton Verhältnis kann selten völlig übertragen werden. Viele Versuche sind jedoch unternommen worden, und der liturgische Wert solcher Übersetzungen bleibt natürlich jedenfalls behalten. Dennoch hat es den Vorzug das Werk in der ursprünglichen Sprache auszuführen und eine gute Übersetzung im Liturgieblatt aufzunehmen. Das Beste is aber selbst neue Musik in der eigener Sprache zu schaffen. Aus dieser Überzeugung ist neulich ein Projekt aufgestartet worden Kirchenmusiker Auftrag zu geben Musik zu den sonntäglichen Lesungen zu komponieren. In dieser Reihe (Motet 2000) ist schon viel Gutes entstanden. Siehe zum Beispiel einen Teil der Motette über Markus 13:22, 23 von Theo Goedhart:
(Theo Goedhart - Markus 13:22, 23)
Viel leichter sind Kirchenlieder zu übersetzen. Das Wort-Ton Verhältnis ist nicht so stark wie bei den Motetten. Viele Chorsätze aus dem 'Chorgesangbuch von Richard Gölz' und dem 'Evanglischen Kantoreibuch' von Wilhelm Ehmann können so in holländischer Übersetzung gesungen werden. Aber auch hier sind die holländischen Kirchenmusiker aktiv, und ist inzwischen viel neues zu melden. Eine schöne Ausgabe ist zum Beispiel 'Contrafacten' (Ausgabe: Centrum voor de Kerkzang) mit 66 neuen Dichtungen des Becker Psalters von Heinrich Schütz.
Diese kurze Teilübersicht kann beschlossen werden mit der ‘Musica sub Communione'. Alle gute Musik ist hier geeignet. Es scheint als ob die Liturgie hier langsam zu Ende kommt und still steht. Der liturgische Gang zum Kern des Glaubens ist vollendet und die ‘Liturgie' bekommt hier plötzlich andere, himmlische Dimenzionen. Eine trockene Liste mit Motetten ist dafür nicht angebracht. Es könnte Josquin dez Pres oder Arvo Pärt sein, Strawinsky oder Dufay, Schütz oder Pepping, oder ein einfaches Kirchenlied. Hier sind wir auf dem Höhepunkt der Liturgie und das durchstrahlt alles Musizieren. Hier kommt gewiss der Himmel in der Musik auf Erden.
In der Vesperliturgie gibt es für den Chor viele Möglichkeiten. Der Choranteil kann hier relativ etwas größer sein. So könnten vielleicht die polyphonen Psalmen von Jan Pieterszoon Sweelinck, die er ursprünglich für Gebrauch zu Hause komponiert hat, gesungen werden. Auch die Psalmen von Cornelis Boscoop und Herman Hollanders sind gute Beispiele von holländischer Kirchenmusik die vier Jahrhunderte später im Gottesdienst nachträglich einen Platz finden können. Aber auch die Vespers von Serge Rachmaninow und Vespers mit Gesänge aus Taizé werden zum Beispiel in Holland gesungen.
Eine schöne, viel gebrauchte Ausgabe in der Weihnachtszeit ist ‘A Festival of Lessons & Carols' in holländischer Sprache (Ausg. Centrum voor de Kerkzang). Es ist ein traditioneller ‘Evensong' mit Hymns und Lesungen. Auch ist eine holländische ‘Christvesper' nach einem Vorbild Martin Luthers Deutscher Messe (1526) erschienen.
Zum Schluss
Es zeigt sich unmöglich eine komplette Darstellung zu geben von alles was in der Liturgie in Holland gesungen wird. Es gibt zu viel Verschiedenheit in Qualität und Stil um das in nur wenigen Seiten gut beschreiben zu können. Eigentlich alles ist möglich und erlaubt. Von hoch-liturgischen Gottesdiensten bis zu ‘evangelical' Zusammenkünften. Von Studenten-Gottesdiensten mit unverbindlichen und oberflächlichen Texten bis zu sehr konservativen Diensten wo noch immer nur die Psalmen gesungen werden (oft auch noch mit langen, halben Noten). Auch die Chöre sind dadurch sehr verschieden. Anspruchslose, kleine liturgische Kantoreien die auch einfache Akklamationen singen (viele sind aufgenommen im ‘Dienstboek, een proeve') und demgegenüber große Chöre die nur für das ‘Große' und ‘Imposante' zu interessieren sind. Diese Pluriformität biete ein Jeder aber Freiheit.
Die hauptberuflichen Kirchenmusiker komponieren oft selber viel Kirchenmusik, geeignet für die örtlichen Verhältnisse und die örtliche Kantorei. Vorbilder für diese A-Kirchenmusiker bleibt jedoch die hochqualifizierte Kirchenmusik der Tradition. Für die lutherischen Kirchenmusiker in Holland ist das grössenteils die deutsche Kirchenmusik, die kalvinistischen Kirchenmusiker finden daneben auch viel Inspiration in England.
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